Der Blick verliert sich im blau getönten Farbspektrum des Himmels – von Azur bis Indigo. Den vorderen Bereich der Szenerie bedeckt ein türkisfarbenes Laken. Es ist das Schwarze Meer. Mit ermüdeten Schritten verlasse ich das Flugzeug und atme auf 35 Grad erwärmte Luft ein. Auf meiner schriftlichen Einladung stehen die Buchstaben: МГО. Dieses Kürzel bezeichnet Organisationen, die der Verwaltung Moskaus unterstehen. Mein Ziel: Das Sommercamp der Moskauer Bildungsgewerkschaften zur individuellen Weiterentwicklung und Professionalisierung der Bildungsarbeit junger Pädagog*innen und Lehrer*innen sowie zur Anhebung des Lehrniveaus, heißt es im Text.
Messen mit den Besten: Hohes Bildungsniveau in Moskau
Die malerischen Landschaften Anapas und Noworosijsks, direkt am Schwarzen Meer gelegen, stellten die Kulisse für das jährlich stattfindende Sommercamp der Moskauer Bildungsgewerkschaften. „Das Bildungssystem in ganz Russland ist unterschiedlich und sehr durchwachsen“, erklärte mir Tatiana Valerjewna Plotnikowa, die stellvertretende Vorsitzende der Moskauer Bildungsgewerkschaften, bei meiner Ankunft. Träge von der Hitze und mitgenommen von der Reise, las sie die Müdigkeit in meinem Gesicht.
Schnell sprang ich unter die Dusche und ging dann in Begleitung von Tatiana Valerjewna zum Seminar: „Die Moskauer Bildung gilt im gesamten Land als unvergleichlich. Der Anspruch ist sehr hoch und das Bildungsniveau wird an international elitären Standards gemessen.“ Wir näherten uns einer gigantischen Blechverkleidung, hinter deren Wänden Stimmen zu hören waren. „Lehrer*innen und Pädagog*innen genießen hohes gesellschaftliches Ansehen und gelten neben Ärzt*innen als die wichtigsten Arbeiter*innen des Landes. Auch wenn die Bezahlung da etwas anderes erzählt“, lacht die Bildungsgewerkschafterin. In der Blechhalle erwartete mich ein unerwarteter Anblick: unzählige Reihen junger Lehrer*innen und Pädagog*innen, sortiert nach uniformen T-Shirts, um die Zugehörigkeit zu ihrer Mannschaft zu kennzeichnen.
Erbe des Sozialismus? Aufsicht und Forderung in verlockender Lage
Nur die ambitioniertesten Lehrer*innen Moskaus dürfen am Camp teilnehmen. Die meisten streben an, in das Direktorium ihrer Schule oder in das Bildungsministerium aufzusteigen. Die jungen Bildungsgewerkschafter*innen werden Mannschaften zugeordnet, die sich nach der geografischen Lage der Schulen innerhalb Moskaus orientieren: CAO für den nördlichen Bezirk, BAO für den östlichen, ЮЗАО für den südwestlichen und so weiter.
Jede Mannschaft hat eine Leitperson, die die Kommunikation zwischen den Teilnehmer*innen und der Administration koordiniert. Aus jeder Mannschaft wird außerdem ein*e Kommissar*in gewählt. Die Kommissar*innen wechseln täglich die Mannschaften und sollen motivieren, helfen und betreuen: eine Art rotierendes Aufsichtssystem. Das Sommerlager dient den jungen Pädagog*innen zur individuellen Weiterbildung, Vernetzung und der persönlichen Charakterstärkung, denn nebst schöner Umgebung und verlockender Lage ist das Camp vor allem eins: fordernd.
Tarifverhandlungen und psychologische Beratung, Jeep-Tour und Dance-Battle
Der Tag beginnt mit gymnastischer Erwärmung um 8.30 Uhr. Die folgenden Tagespunkte sind so eng getaktet, dass die Zeit so eben reicht, um von einem Seminar zur nächsten Übung zu wechseln. Neben pädagogischen Trainings à la „Wie überlebe ich im Elterngespräch?“ und gemeinschaftsstärkenden Events wie einer Jeep-Tour oder gemeinsamem Ausreiten in der Nähe Krasnodars beweisen die Moskauer Bildungsarbeiter*innen Selbstwitz und Hingabe. Zum Beispiel bei Events wie dem cтартин (Star-Teen) – einer Tradition russischer Jugendorganisationen und -verbände, bei der die Mannschaften in einer Art Dance-Battle gegeneinander antreten.
Die Seminarangebote sind vielfältig: Die stellvertretende Vorsitzende Tatiana Valerjewna bietet ein 14-stündiges Seminar zum Singapur-System an. Pädagogisch-psychologische Beratung, zu beachtende Kriterien bei Tarifverhandlungen oder allgemeine didaktische Methoden werden in anderen Seminaren vermittelt.
Staatlich gefördert: Einmal Lehrer*in des Jahres sein
Eine wichtige Rolle spielen auch die Master Classes der Kandidat*innen für die Auszeichnung „Lehrer*in des Jahres“, einer staatlich geförderten Ehrung. „Die Auszeichnung wird vom russischen Bildungsministerium verliehen und gleicht einem Ritterschlag“, erklärt der Leiter von CAO, Andrey Chugunov. „Die Präsentationen sollen fachspezifisch, aber interdisziplinär sein. So konzipiert, dass alle etwas davon mitnehmen können.“
Aus dieser Idee resultierend beweist ein Seminarvortrag, dass die Tempusformen im Englischen geometrischen Formeln folgen und so vorausgesagt werden können. Nützlich für Schüler*innen, die zwar Stärken in Mathematik haben, aber keinen Zugang zu Sprachen.
Kollektiven Ziel in einem koordinierten System
Die Motivation und Hingabe, mit der die jungen Lehrer*innen und Pädagog*innen ihrem Bildungsauftrag nachgehen, wiegt sich in Humor und Selbstironie auf. Das cтартин entpuppt sich als Musterbeispiel symbiotischer Arbeitsteilung: Die Frontperson gibt Bewegungen vor, die der Rest der Mannschaft in beinahe manischem Gehorsam ausführt, die Anstrengung unterdrückend, um dem gemeinsamen Ziel zu dienen. Um uns herum rotiert das Anfeuerungsteam, fächert uns Luft zu mit Handtüchern, Wasserbecher gehen reihum und die Zurufe und Motivationsparolen dringen ganz klar durch das Gewirr der koordinierenden Schreie der anderen Mannschaften. Jede*r weiß, was zu tun ist. Aus einem Mikrofon ertönen Vorgaben, die die einzelnen Mannschaften ausführen müssen: „Zeigt mir eure komischsten Bewegungen. Eure ekligsten. Eure stinkigsten. Eure 70er-Jahre-mäßigsten …!“
Diese Aktion war ein Moment der Hingabe. De-Subjektivierung zur Erreichung eines kollektiven Ziels in einem koordinierten System, in dem die Aufgaben so klar zugeordnet waren, dass während der Ausführung – während des Sturms – keine Fragen aufkamen, sondern einfach gemacht wurde. Das ist der Stoff, aus dem Revolutionen, aber auch Autokratien geboren werden.
Einfach mal lachen: Von- und miteinander lernen
Die beispielhafte Arbeitsteilung während des стартин trug sich weiter über die Tagesplanungen des gesamten Zeitraums. Darin sehe ich persönlich die größte Überraschung meines zehntätigen Aufenthalts: So ernsthaft die Moskauer Kolleg*innen dem Willen zur Weiterbildung nachgehen und so mühevoll sie Aktionen, die zur allgemeinen Unterhaltung dienen, vorbereiten – so ausgelassen können alle über sich selbst lachen, wenn 150 ambitionierte Bildungsgewerkschafter*innen ihre komischsten, ekligsten oder 70er-Jahre-mäßigsten Dance-Moves auspacken.
Das, was ich an dieser Stelle als Mentalität bezeichnen würde, ist das Schönste, was ich von diesem Sommercamp mitnehme. Das Lehrreichste, das ich mitnehme, ist der bildungspolitische und gewerkschaftliche Wert. Die Moskauer Bildungsgewerkschaften gehen ähnlich in Tarifverhandlungen vor und handeln vergleichbare Konditionen und Rahmenbedingungen aus.
Anderes Bildungssystem, ähnliche Probleme
Das Bildungssystem ist gänzlich anders strukturiert als bei uns in Deutschland. Die Schüler*innen werden nach der vierten Klasse nicht geteilt, jedoch gibt es vergleichbare Abschlüsse und technische Lehren. Die Probleme aber sind dieselben: Am Ende fehlt das Geld. Sanierfällige Schulen, Sporthallen müssen während der Unterrichtsstunde durch Parallelbelegungen geteilt werden, zu wenig Personal resultiert darin, dass manche Lehrer*innen bis zu 37 Schulstunden in der Woche unterrichten müssen.
Hinzu kommen individuelle Vor- und Nachbereitung. Gleichzeitig sollen junge Pädagog*innen die aktuellen Trends wie Inklusion und Industrie 4.0 berücksichtigen, ihren Unterricht multimedial gestalten und an jedes Kind individuell anpassen.
Plattform für Austausch und Solidarität
Dieses Sommercamp bietet eine nachhaltige Plattform, um junge Bildungsarbeiter*innen zusammenzuführen und sich über die gängigen, selbst ausgewählten Probleme und Lösungsansätze auszutauschen.
In Zeiten globalisierter Wirtschaft und Politik ist internationale Vernetzung das letzte Mittel, um oktroyierten Erlassen oder Gesetzesentwürfen entgegenzuwirken. Sowie der Solidaritätsgedanke innerhalb der Gewerkschaft nicht an Wert verlor, gilt auch auf struktureller Ebene und über die nationalen Grenzen hinaus: Eine*r für alle und alle für eine*n.
Marcus Boxler, junge GEW NRW